Eine Frage der Reinheit …

Wallace

David Foster Wallace

mit der Frage wie eigentlich Sucht definiert wird, habe ich mich schon sehr lange Zeit beschäftigt. Zu Anfang dachte ich Sucht kommt von Suchen. Mit erhobenem Zeigefinger erklärte mir ein ganz schlauer Therapeut eines Tages, es käme von Siech und bedeute Krankheit, also Siechtum.

Seit ich Baclofen nehme, habe ich zu diesem Thema ganz neue Zugänge und komme ständig zu neuen Erkenntnissen. Ausserdem bleibe ich neuerdings bei Themen hängen die eigentlich mit diesem Thema nicht viel zu tun haben, dachte ich jedenfalls. Ist das eine Nebenwirkung von Baclofen?

So las ich gestern im Spiegel (Ausgabe4/2010) einen Artikel mit dem Titel „Freiheit ist ein verkrüppelter Begriff.“
In dem Artikel geht es u. a. um das realistische Erzählen als eine Form des Widerstands. Zwei amerikanische Schriftsteller, Jonathan Franzen und Adam Haslett werden von Spiegel-Redakteuren zum Thema befragt. Über diesen Auszug bin ich förmlich gestolpert:

Spiegel: David Wallace hat sich 2008 umgebracht. Ist Schreiben lebensgefährlich? Wallace sah sich offenbar vor die Alternative gestellt, Antidepressiva zu nehmen oder produktiv zu bleiben. Er hat sich fürs Schreiben entschieden.

Franzen: Es war ein bisschen komplizierter. Seit seiner Teenagerzeit war er drogenabhängig, er war ein schlechter Patient. Und dann hat er mehr und mehr nach absoluter Reinheit gesucht., er wollte der abstinente Alkoholiker schlechthin sein. Ich sagte ihm, dass es wahnsinnig sei, ohne alles auszukommen, doch er wollte Rein bleiben, und natürlich gibt es keine höhere Form der Reinheit als den Tod.

Peng, das haute mich um. Dieser Satz, … und natürlich gibt es keine höhere Form der Reinheit als den Tod, beschäftigte mich den ganzen Tag. Und über Sucht, Angst, Baclofen, GABA, Dopamin entstand der Gedanke: wenn die Angst per se überlebensnotwendig ist, kann sie dennoch fehlgeleitet werden, zum Tod führen, wie z. B. durch die Komorbität mit Drogenabhängigkeit.

Baclofen nimmt mir die Angst und macht Alkohol überflüssig. Abhängigkeit scheint mir ebenfalls lebensnotwendig zu sein. Das fängt schon am ersten Tag des Lebens an, die erste Abhängigkeit ist die zur Mutter. Kein Tier ist derart unselbständig und damit abhängiger, als der Homo Sapiens und das auch noch einige Jahre lang. Kaum abgenabelt, erlernt Mensch neue Abhängigkeiten und löst sich dann wieder um scheinbar unabhängig zu werden. In meinem Leben lief da irgendetwas falsch, ich blieb irgendwie in der Abhängigkeitsfalle hängen. Ursprünglich lebensnotwendige, im Reptiliengehirn seit Jahrmillionen abgespeicherte Überlebensstrategien haben sich gegen mich gewandt und mich fast das Leben gekostet. 

David Wallace hat offensichtlich nie etwas von Olivier Ameisen oder Baclofen gehört geschweige denn gelesen und so verpasste er die letzte Ausfahrt. Vielleicht hätte er mit Baclofen den Irrweg „der absoluten Reinheit“ verlassen können, sich ab und an etwas Unreinheit erlauben können. Lieber nicht ganz so rein