Nun, es ist natürlich schön, wenn Suchtexperten endlich ihren Job machen.

ameisen

WELT ONLINE Von Pia Heinemann 19. Februar 2010, 10:20 Uhr

Mit seinem Buch „Das Ende meiner Sucht“ hat Olivier Ameisen vielen Menschen Hoffnung gemacht: Er war Alkoholiker und testete an sich ein Medikament gegen die Abhängigkeit. Noch ist die Zulassung fern, doch das Medikament wird bereits gegen andere Suchtkrankheiten eingesetzt. WELT ONLINE sprach mit dem Forscher.

WELT ONLINE: Professor Ameisen, vor zwei Jahren hat die New York State-Universität ihnen einen Professoren-Titel verliehen, weil Sie eine Therapie gegen die Sucht gefunden haben. In Ihrem Buch „Das Ende meiner Sucht“ beschreiben Sie sehr offen die körperlichen und seelischen Abgründe, in die Sie der Alkohol getrieben hat. Mussten Sie so drastisch werden?

Ameisen: Sie fanden das drastisch? Nun, es ist einfach die Realität gewesen. Ich war so gefangen in meiner Sucht, dass ich meiner Universität und dem Klinikum die Niederlegung meiner Ämter angeboten habe. Allerdings haben das Medical College der Cornell Universität, an dem ich Medizinprofessor war und das New York Hospital, wo ich als Herzspezialist arbeitete mein Gesuch abgelehnt. Sie wollten mich behalten und waren sehr stolz, als ich von Präsident Chirac zum „Ritter der Ehrenlegion“ ernannt wurde. Ich empfand es aber damals, wohl als Folge des geringen Selbstwertgefühles, das die Sucht mit sich bringt, als unverdient. Ich entschied mich, keine Patienten mehr zu behandeln, bis meine Krankheit vorbei war. Ich habe meine Familie und meine Freunde immer wieder vor den Kopf gestoßen und enttäuscht. Ich habe mich durch unzählige Entzugstherapien und Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern geschleppt. Ich hatte immer wieder Hoffnung.

WELT ONLINE: Genauso offen wie ihre Abstürze beschreiben Sie auch, wie Sie sich selbt mit mit dem Wirkstoff Baclofen geheilt haben.

Ameisen: Stimmt. Seit 2004 nehme ich täglich maximal 120 Milligramm Baclofen. Ich hatte zunächst mit einer hohen Dosis begonnen und sie dann langsam gesenkt. Fünf Wochen später war ich geheilt, das ist nun sechs Jahre her. Die Beschreibung meines Falles wird heute in der Fachliteratur als die erste Heilung einer Sucht bezeichnet. Ich habe eine Reihe von Vorträgen an der Harvard Medical School, der Columbia University, New York University und anderen berühmten Universitäten gehalten. Einige Ärzte haben nach meinen Vorträgen angefangen, ihren Patienten ebenfalls Baclofen zu verschreiben. Sie berichten, dass geradezu hoffnungslose Fälle geheilt wurden. Seit sechs Jahren kann ich ohne Probleme ein Glas Alkohol vor mir stehen sehen – ohne von der Sucht übermannt zu werden. Das „craving“, also das unbändige Verlangen nach dem Stoff, ist weg. Und, besser noch: Auch wenn ich ein oder zwei Gläster trinke, entwickele ich nicht das geringste Verlangen. Das war undenkbar zu der Zeit, als ich noch Alkoholiker war. Und es ist auch für abstinente Alkoholiker undenkbar. Ich bin also nicht abstinent, sondern Alkohol ist mir heute, dank Baclofen völlig gleichgültig.

WELT ONLINE: Dieser Stoff wird gerne als eine „Wunderdroge“ beschrieben…

Ameisen: Aber das ist es nicht. Es gibt keine Wunderdrogen in der Medizin: weder Penicillin noch Baclofen sind das. Sie vollbringen nur das Wunder, Patienten zu heilen.

WELT ONLINE: Allerdings ist Baclofen nicht gegen die Sucht zugelassen.

Ameisen: Baclofen ist als Standardmittel bei bestimmten neurologischen Erkrankungen, bei Krämpfen, zugelassen. Nicht als Mittel gegen die Sucht. Aber jeder Arzt kann, wenn er das Einverständnis der Patienten hat, eine Arznei auch gegen Krankheiten einsetzen, für die es nicht zugelassen ist. In den USA werden 25 Prozent aller Arzneien „off label“ verschrieben, in der Psychiatrie sind es sogar 60 Prozent. Der Arzt soll verschreiben, was seiner begründeten Meinung nach seinem Patienten hilft. Und ich bekomme jeden Tag viele Emails von Suchtkranken, die geheilt wurde. Über 500 Patienten in den USA und Europa wurde mittlerweile von Spezialisten als „geheilt“ bezeichnet. Die Patienten wollen das Mittel ausprobieren!

WELT ONLINE: Aber Ärzte verschreiben meistens nur die Wirkstoffe, von denen gute Studien belegen, dass sie auch wirklich helfen. Und bei denen keine Nebenwirkungen auftreten. So will es der Ethos der Mediziner.

Ameisen: Mitnichten! Aspirin etwa wurde niemals gegen Kopfschmerzen oder Schmerzen allgemein getestet. Trotzdem nimmt es jeder. Und im Gegensatz zu Baclofen sind von Aspirin Nebenwirkungen wie Blutungen im Gehirn oder im Magen-Darmtrakt bekannt. Aber Alkoholismus und seine Folgen töten allein in Deutschland jeden Tag etwa 200 Menschen. Und bei einer derart tödlichen Krankheit müssen wir Ärzte eine ethische Entscheidung treffen: sollen wir die Patienten weiter leiden und sterben lassen? Oder sollen wir ihnen ein Medikament geben, von dem wir dadurch, dass es ein altes Medikament ist, sogar wissen, dass es sicher ist.

WELT ONLINE: Aber Sie könnten ein Einzelfall sein. Man hört ja immer wieder von diesen Fällen, in denen ein Patient, egal ob sucht-, herz- oder krebskrank, durch einen Selbstversuch geheilt wurde. Diese Selbstversuche sind sehr gefährlich, weil niemand weiß, ob der Patient wirklich durch den Wirkstoff, durch einen Placebo-Effekt oder durch irgendetwas ganz anderes geheilt wurde.

Ameisen: Diese Frage konnte man sich stellen, solange ich der einzige Patient war, der geheilt wurde. Aber heute sind bereits viele Alkoholiker geheilt worden. Alle anderen Therapien haben ihnen nicht geholfen, nur Baclofen. Wenn also Baclofen durch einen Placebo-Effekt heilen sollte – nun, dann würde ich gerne ein Placebo verschreiben.

WELT ONLINE: Warum verschreiben Ärzte Baclofen dann nicht standardmäßig?

Ameisen: Nun, die Ärzte in Frankreich, Großbritannien und den USA, die Baclofen verschreiben, sehen, dass ihre Patienten geheilt werden. In Frankreich habe ich aber die interessante Erfahrung gemacht, dass die Ärzte, die sich dagegen wehren, das Medikament zu verschreiben, meistens Sucht- und Alkohlismus-Spezialisten sind. Die Medien attackieren sie mittlerweile wegen unethischen Verhaltens. Sie werfen ihnen vor, sie wollten nur ihre Patienten nicht verlieren. Ich habe fünf Jahre lang dafür geworben, klinische Studien durchzuführen. Aber nichts ist passiert.

WELT ONLINE: Warum?

Ameisen: Weil Baclofen die Patienten heilt!

WELT ONLINE: Klinische Studien sind bei einem Mittel, für das die Patente abgelaufen sind, sehr schwierig durchzusetzen – kein Pharmaunternehmen hat ein Interesse daran, Geld in die Studie zu stecken.

Ameisen: Das stimmt. Und den Pharmaunternehmen kann man da nicht einmal einen Vorwurf machen. Warum sollten sie Millionen Euro in Wirkstoffstudien stecken, bei denen kein patentiertes Medikament herauskommen wird, und sie sich somit auch keinen Gewinn versprechen können? Schon seit meinem ersten Aufsatz im Jahr 2004 fordere ich eine große unabhängige Studie, die an einer Universität oder Klinik durchgeführt wird. In diesem Aufsatz hatte ich meinen Selbstversuch mit Baclofen beschrieben. Doch in den folgenden vier Jahren tat sich so gut wie nichts: nur zwölf Alkoholpatienten weltweit wurden mit Baclofen behandelt. Seitdem mein Buch aber herausgekommen ist und sich nicht mehr nur das medizinische Fachpublikum mit dem Stoff beschäftigen konnte, sind aber viele kleine Studien angelaufen.

WELT ONLINE: Auch an der Berliner Charité gibt es erste Vorbereitungen zu einer Studie.

Ameisen: Ja. Allerdings ist man in Deutschland bisher sehr zurückhaltend mit der Dosierung. Wissen Sie, in den vergangenen 20 Jahren haben viele Studien gezeigt, dass eine Dosierung von 30 bis 60 Milligramm garnichts bringt. Dennoch werden Studien mit 30 Milligramm Baclofen durchgeführt. Aber das ist viel zu wenig. Ich selbst habe bis zu 270 Milligramm pro Tag eingenommen. Und in anderen Ländern werden Patienten sogar mit bis zu 400 Milligramm behandelt. Im französischen Villejuif habe ich mit Renaud de Beurepaire, dem Chef der Psychiatrie und Psychopharmakologie 150 Patienten behandelt. Es hat sich herausgestellt, dass durchschnittlich 150 Milligramm nötig sind.

WELT ONLINE: Allerdings ist man in Deutschland, dem Mutterland des Contergan-Skandals, auch zu Recht zurückhaltend wenn es darum geht, Wirkstoffe in beliebig hoher Dosis einzusetzen. So sieht sich die zuständige Behörde gezwungen, falschen Medienberichten nachzugehen, demnach bereits Studien laufen würden. Studien, für die es gar keine Zulassung gibt. Und das nur, weil Suchtforscher die Durchführung einer Studie beantragt haben. Und nun durch den Wirbel, den ihr Buch auch in Deutschland verursacht hat, massiv unter Druck geraten, was die Aussichten auf Genehmigung einer Studie möglicherweise nicht eben verbessert. Ist Ihre Strategie, sehr laut an die Öffentlichkeit zu gehen, wirklich die richtige?

Ameisen: Ja, ganz offensichtlich. Andreas Heinz von der Charité hat in der Günter Jauch-Show gesagt, dass er, bevor er mein Buch gelesen hat, nichts davon wusste, dass Baclofen in hohen Dosen so wirksam ist. Er wurde erst darauf aufmerksam, als er Anrufe von Patieten und ihren Angehörigen erhielt, die mein Buch gelesen hatten. Und das Buch ist in Deutschland fünf Jahre nach meinem ersten Fachartikel erschienen und ein Jahr nachdem die Zeitschrift „Alcohol and Alcoholism“ meine Behandlungsmethode offiziell befürwortet hat.

WELT ONLINE: Ist es je
tzt schon zu spät für klinische Studien?

Ameisen: Nun, es ist natürlich schön, wenn Suchtexperten sich endlich ihren Job machen. Aber Jerome Posner, einer der angesehensten Neurologen der Welt, hat mir geschrieben, dass hochdosiertes Baclofen vielleicht die Therapie der Wahl werden wird, ohne jemals eine kontrollierte Studie durchlaufen zu haben. Einfach nur durch Mundpropaganda. Selbst wenn Experten Baclofen ignorieren, sollte das die Patienten nicht daran hindern, diese möglicherweise lebensrettende Therapie zu bekommen. Und Baclofen ist etwas ganz anderes als Contergan: Contergan war nämlich ein geprüfter, patentierter aber neuer Wirkstoff. Baclofen wird schon lange in hoher Dosierung eingesetzt – und seit einem halben Jahrhundert wurden keine gefährliche Nebenwirkungen bekannt.

WELT ONLINE: Sie beschreiben sich in ihrer Zeit als Alkoholiker als körperliches und seelisches Wrack. Und sie hatten schlimme Angstzustände.

Ameisen: Ja. Abhängige haben häufig Ängste und auch Depressionen. Das ist ein Grund, warum viele Patienten zum Alkohol greifen – sie fühlen sich dann besser. Baclofen unterdrück die Ängste. Man fühlt sich wesentlich besser und hat mehr Selbstvertrauen. Deshalb wirkt es ja auch so gut. Und Baclofen macht nicht abhängig.

WELT ONLINE: Hilft Baclofen also auch bei anderen Abhängigkeiten?

Ameisen: In Frankreich wird Baclofen auch gegen Nikotinsucht und Bulimie eingesetzt. Und die Ärzte können es kaum glauben: Es wirkt. Die Leute hören auf zu trinken, zu rauchen usw.?ohne jede Anstrengung. Deutsche Ärzte werden dem folgen – die Dinge bewegen sich schnell. Auch wenn Baclofen nur einer Teilgruppe der Süchigen helfen würde, dann wären das auch sehr viele Leute. Die einzigen Patienten, bei denen es nicht wirkt, sind die, denen es nicht verschrieben wird. (In Frankreich sagen die Spezialisten bereits, die Zeitungsberichte drängten sie aus ihrem Feld heraus. Denn Allgemeinärzte hören den Patienten offenbar besser zu. Sie haben Mitgefühl – und Mut: denn sie verschreiben Baclofen, die Lösung. Alkoholismus und Süchte entwickeln sich zu einer Krankheit, die die Patienten mit ihren Hausärzten besprechen sollten – so, wie sie es für Bluthochdruck oder Grippe tun. Man braucht keinen Spezialisten mehr für solche Probleme.

„Das Ende meiner Sucht”, Olivier Ameisen. Kunstmann, München, 320 Seiten, 19,90 Euro

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