"Allein mit Willenskraft schafft es fast niemand, die Alkoholsucht zu überwinden."

Frei von der Flasche

Gegen die Alkoholsucht richten Medikamente bisher wenig aus. Jetzt beflügelt ein neuer Ansatz die Forscher

Anke Brodmerkel

Die Idee klang ebenso einfach wie verlockend: Man nehme ein paar Monate lang täglich eine Pille ein und ist fortan von seiner Alkoholsucht geheilt. Diese Vorstellung entstand in den Köpfen vieler Menschen nach der Lektüre eines Buchs, in dem der französische Kardiologe Olivier Ameisen mit bewegenden Worten erzählt, wie er nach jahrzehntelanger Alkoholsucht seine Abhängigkeit endlich besiegen konnte. Seine Wunderwaffe war ein Medikament namens Baclofen, das seit vielen Jahren erfolgreich gegen epileptische Anfälle und bei Multipler Sklerose verabreicht wird. Auch zahlreiche Medien griffen das Thema begeistert auf.

Doch ganz so einfach, wie viele glaubten, ist es natürlich nicht. Zwar deutet einiges darauf hin, dass es sich bei dem Aufsehen erregenden Selbstversuch weder um eine erfundene Geschichte noch um einen spektakulären Einzelerfolg handelt. Bisher weiß aber niemand, wie viele Alkoholiker von Baclofen profitieren könnten.

Auf dem Markt sind durchaus schon andere Medikamente zur Behandlung einer Alkoholsucht erhältlich. „Die Erfahrung hat allerdings gezeigt, dass nur höchstens jeder fünfte Alkoholiker mit ihrer Hilfe seine Abhängigkeit überwindet“, sagt der Suchtmediziner Andreas Heinz von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, Campus Mitte. In Verbindung mit einer psychosozialen Therapie schaffe es etwa jeder zweite, von der Flasche loszukommen. Gemeinsam mit einem Team um Karl Mann, Professor für Suchtforschung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, arbeitet Heinz daher an Strategien, um die Erfolgsrate der Arzneien weiter zu steigern.

Derzeit sind in Deutschland für die Behandlung einer Alkoholsucht im Anschluss an eine erfolgreiche Entgiftung zwei Medikamente zugelassen, die in der Regel zwischen drei und sechs Monate lang eingenommen werden müssen: Acamprosat (Handelsname: Campral) und Disulfiram (Handelsname: Antabus). Acamprosat mindert im Gehirn die Erregung der Nervenzellen, die durch den Botenstoff Glutamat ausgelöst wird. Die Menge dieses Botenstoffes ist bei Alkoholikern erhöht. Indem Acamprosat direkt auf die an der Abhängigkeit beteiligten Botenstoffe wirkt, mindert es das Verlangen nach Alkohol.

Disulfiram blockiert den Abbau des Alkohols in der Leber. Dadurch reichert sich ein Abbauprodukt des Alkohols an: Acetaldehyd, eine chemische Substanz, die starkes Unwohlsein hervorruft. Wer während der Einnahme von Antabus Alkohol trinkt, erleidet Vergiftungssymptome wie starke Übelkeit, Kreislaufstörungen und Angstzustände.

In rund fünfzig Ländern der Welt, nicht aber in Deutschland, ist noch ein drittes Mittel namens Nemexin für die Therapie der Alkoholsucht zugelassen. Sein Wirkstoff Naltrexon blockiert im Gehirn die Opiat-Rezeptoren. Dadurch bleiben die angenehmen Gefühle aus, die der Genuss von Alkohol oder anderen Drogen hervorrufen kann. Hierzulande wird Nemexin vor allem Heroinsüchtigen verabreicht; viele Ärzte verschreiben es aber auch Alkoholikern, da Alkohol im Gehirn opiatähnliche Substanzen freisetzt.

„Bei allen drei Präparaten sind die erzielten Effekte bislang aber höchstens anderthalbmal so groß wie bei einem Placebo“, sagt Karl Mann. Er und seine Kollegen vermuteten jedoch, dass es in der sehr heterogenen Gruppe der Alkoholiker Patienten geben könnte, die nur auf eines der Medikamente ansprechen, während die anderen Präparate bei ihnen keine oder sogar unerwünschte Effekte erzielen. „Gleichzeitig hofften wir, dass es möglich sein müsste, genau das vor Beginn einer Therapie herauszufinden“, sagt Mann.

Um dieser These nachzugehen, starteten die Mediziner vor acht Jahren die Predict-Studie, die vom Bundesforschungsministerium (BMBF) mit acht Millionen Euro finanziert wurde. Im Rahmen der Untersuchung erhielten 426 Alkoholiker in fünf Suchtzentren Süddeutschlands zusätzlich zu einer psychotherapeutischen Betreuung entweder Acamprosat, Naltrexon oder ein wirkstofffreies Scheinpräparat verabreicht. Gleichzeitig erhoben die Mediziner Daten zum Trinkverhalten und zur Persönlichkeit der Probanden.

Das Ergebnis der Studie schien zunächst wenig ermutigend zu sein: Nach sechs Monaten waren etwa vierzig Prozent der Teilnehmer abstinent oder tranken deutlich weniger – allerdings unabhängig davon, ob sie eines der beiden Medikamente oder statt dessen ein Placebo erhalten hatten.

Parallel zu diesem Teil der Studie hatten die Mediziner jedoch 88 Alkoholiker mit bildgebenden Verfahren näher untersucht. „Auf diese Weise konnten wir Patienten aufspüren, die auf Naltrexon signifikant besser reagierten als auf Acamprosat oder ein Placebo“, sagt Mann. Es handele sich dabei um Menschen, die dem Alkohol vor allem wegen seiner berauschenden, euphorisierenden Wirkung verfallen seien – also nicht um solche, die an der Flasche hängen, um mit dem Alkohol ihre Ängste und Sorgen herunterzuspülen. Mann nennt die Patienten, die auf Naltrexon so gut ansprechen, die Hurra-Trinker: „Das sind Leute, die ziehen mit ihren Kumpels gut gelaunt durch die Gegend und werden dabei rückfällig.“

Dem Team um Mann ist es gelungen, mithilfe der Magnetresonanztomografie vorherzusagen, wer zu den Hurra-Trinkern gehört. „Ihr Gehirn reagiert auf Bilder, die einen vollen Bierkrug oder eine Theke zeigen, stärker und mit einem anderen Muster als das Gehirn anderer Alkoholiker“, erläutert er. Auch Gentests konnten die fröhlichen Trinker aufspüren. Denn sie verfügen über eine ganz bestimmte Rezeptorvariante, an der körpereigene Glückshormone, die Endorphine, andocken.

Da die wenigsten niedergelassenen Ärzte allerdings eine Tomografie oder den besagten Gentest vornehmen können, haben Mann und sein Team einen Fragebogen entwickelt, anhand derer die Ärzte diejenigen Alkoholiker erkennen sollen, die von Naltrexon vermutlich profitieren werden. Darin sollen die Patienten zum Beispiel angeben, in welchen Situationen es für sie besonders schwer ist, abstinent zu bleiben. „Wir vermuten, dass wir die Ansprechrate auf Naltrexon mit diesem Verfahren verdoppeln oder sogar verdreifachen können“, sagt Mann.

Ein anderes erhofftes Ergebnis hat die Predict-Studie nicht erzielt: dass Menschen, die gegen ihre Ängste und Sorgen antrinken, mit Acamprosat die besseren Erfolge erzielen. „Bei diesen Probanden war das Placebo beiden Wirkstoffen sogar leicht überlegen“, berichtet Mann. Das könnte darauf hinweisen, dass man solche Patienten verstärkt psychotherapeutisch behandeln muss.

Dessen ungeachtet würde der Mannheimer Mediziner sich wünschen, dass weitere Medikamente gefunden werden, die bei Alkoholsucht unterstützend eingesetzt werden können. Auch aus diesem Grund ist er sehr gespannt auf die Ergebnisse einer kleinen Studie, die der Charité-Mediziner Andreas Heinz vor Kurzem initiierte: Angeregt von dem Selbstversuch Olivier Ameisens hat Heinz begonnen, Patienten, die schon mehrere vergebliche Entzugsversuche hinter sich haben, Baclofen zu verabreichen.

Derzeit sind es vier Probanden, mindestens zwanzig sollen es werden. „Erst dann können wir abschätzen, ob das Mittel besser ist als ein Placebo“, sagt Heinz. Die Einschätzungen seiner ersten Patienten seien verhalten positiv. Aber weil die Hoffnungen auf beiden Seiten sehr groß sind, könne der erste Eindruck täuschen.

Baclofen imitiert im Gehirn die Wirkung des Botenstoffs Gamma-Aminobuttersäure, kurz Gaba genannt. Gaba ist ein Gegenspieler des bei Alkoholikern in erhöhter Konzentration vorhandenen, erregenden Botenstoffes Glutamat und wirkt daher beruhigend. Eine US-Studie aus dem Jahr 2003 hat gezeigt, dass Baclofen Menschen den Ausstieg aus einer Kokainsucht erleichtern kann. Vielleicht, so hofft Heinz, eignet sich die Substanz ja auch, um den Sorgen-Trinkern bei der Überwindung ihrer Sucht zu helfen. Bisher klagen seine Probanden noch nicht über Nebenwirkungen. Die häufigste Begleiterscheinung von Baclofen ist Müdigkeit; viele Patienten neigen unter dem Mittel aber auch zu Depressionen oder Euphorie.

Sollte die kleine Baclofen-Studie positiv verlaufen, stellt Heinz eine größere kontrollierte Untersuchung in Aussicht, bei dem sich das Medikament gegenüber einem Placebo behaupten muss. Da der Patentschutz für Baclofen schon vor Jahren abgelaufen ist, würde wohl keiner der Hersteller eine solche Studie finanzieren. Heinz hofft daher, die nötigen Gelder vom BMBF oder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu erhalten. „Denn eines sollten wir nicht vergessen“, sagt er: „Alkoholismus ist eine Erkrankung des Gehirns – allein mit Willenskraft schafft es fast niemand, sie zu überwinden.“

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„Allein mit Willenskraft schafft es fast niemand, die Alkoholsucht zu überwinden.“ Andreas Heinz, Charité-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Manche Menschen werden Alkoholiker wegen der euphorisierenden Wirkung der Droge – andere trinken, um Probleme zu verdrängen. Sogenannte Hurra-Trinker müssen anders therapiert werden als Sorgen-Trinker.

0 Kommentare zu “"Allein mit Willenskraft schafft es fast niemand, die Alkoholsucht zu überwinden."

  1. Hallo Invorio,

    ich bin seit einigen Jahren trocken, habe aber vorher auch große Mühe gehabt, trocken zu werden. Ich sehe Baclofen als eine weitere therapeutische Option, verteufele also auf gar keinen Fall Medikamente. Etwas stört mich an Ihrer Darstellung der „Willenskrafttheorie“: Ich habe bei AA gelernt, dass man vor dem Alkohol kapitulieren muss – man muss also das genaue Gegenteil von Willenkraft einsetzen. Man muss aufhören zu kämpfen und die Übermacht des Alkohols anerkennen. ICH bin ohnmächtig gegenüber dem Alkohol und suche Schutz, indem ich nicht alleine kämpfe (völlig chancenlos), sondern in Gruppen gehe.

    Sobriety24

  2. Nach einigem Suchen habe ich diesen Blog gefunden, der sich doch deutlich von den Willenskraft-Foren über Alkoholabhängigkeit unterscheidet, was mir als Nutzer von Baclofen sehr entgegenkommt. Mein Interesse ist es, Kontakte mit anderen Nutzern von Baclofen zu finden und so die Erfahrungen austauschen zu können z. B. Tagesdosis, Dosisreduzierung, Wirkungen und Nebenwirkungen, Langzeitverhalten usw. Systematische Untersuchungen gibt es bisher nur in sehr geringem Umfang und die ersten Tests von Baclofen an vier(!) Patienten an der Charitè werden da auch nichts dran ändern, auch wenn das Presse-Echo auf diese Tests hoch war.
    Daher bedauer ich es, dass der Baclofen blog aus dem Forum ausgeschlossen wurde.

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