Interview mit Olivier Ameisen

„Frei vom Verlangen nach Alkohol“
Der Kardiologe Olivier Ameisen preist das neurologische Medikament Baclofen als Mittel gegen Alkoholismus an. Leider gibt es noch keine Studien, die das belegen.

Monsieur Ameisen, sind Sie Alkoholiker?
Ich war ein hoffnungsloser Alkoholiker, aber ich bin es zum Glück seit bald sechs Jahren nicht mehr. Alkoholismus ist eine chronische Krankheit, die bei mir erfolgreich behandelt wird – wie bei anderen Bluthochdruck.

Sie haben 2004 mit Hilfe des Medikaments Baclofen mit dem Trinken aufgehört und nehmen es weiterhin?
Ich hatte alle verfügbaren Therapien ausprobiert – erfolglos. Dann stieß ich auf erste wissenschaftliche Hinweise, dass das in der Neurologie eingesetzte Medikament Baclofen auch gegen Sucht hilft. Inzwischen nehme ich Baclofen, weil es mir gegen meine Angststörung hilft. Und es sorgt dafür, dass ich keinen Rückfall bekomme. Das ist unter Baclofen-Einfluss unmöglich.

Das klingt ja so, als sei Baclofen eine Art Substitut für Alkohol?
Nein, ein Substitut ersetzt immer nur eine bestimmte Droge. Baclofen aber hilft, weil es die Sucht an sich blockiert.

Bewiesen ist das ja noch nicht…
Aber die Hinweise aus der Praxis mehren sich. Dr. Fred Levin von der Northwestern University in Chicago hat 14 Patienten behandelt und erklärt sie sämtlich für 100 Prozent geheilt. Andere Ärzte, wie Pascal Gache von der Universität Genf melden mir eher 90 Prozent. Das ist bei einer offiziell als unbehandelbar geltenden Krankheit bemerkenswert.

Müsste nicht erst mal in einer klinischen Studie bewiesen werden, dass Baclofen wirklich hilft?
Ich weiß von keinem einzigen Patienten, bei dem Baclofen nicht gewirkt hätte, außer jenen, die gar nicht aufhören wollten und nur von Angehörigen zur Therapie gedrängt wurden.

Aber Dr. Ameisen, Sie als Professor der Medizin und angesehener Kardiologe wissen doch, nach welchen Regeln und ethischen Grundsätzen Wissenschaft funktioniert
Selbstverständlich. Ich bin schließlich derjenige, der eine große unabhängige Studie fordert. Und das tue ich schon seit meinem ersten Aufsatz von 2004. Das Problem ist, dass Baclofen nicht mehr dem Patentschutz unterliegt. Die Pharmaindustrie hat deshalb kein Interesse daran, in die Forschung zu investieren. Seit 2004 bis zum Erscheinen meines Buchs 2008 wurden gerade mal zwölf Alkohol-Patienten weltweit mit Baclofen behandelt – zehn in Genf und zwei in Paris. Unter dem öffentlichen Druck, seit das Buch heraus kam, sind es nun mehr als 300. Und endlich werden nun auch Studien vorbereitet. Eine vom Herausgeber der medizinischen Fachzeitschrift Alcohol and Alcoholism, Jonathan Chick, in Edinburgh und eine in London – beide für Alkohol.

Es wird jetzt also Studien geben? Das ist eine neue Entwicklung.
Ja außer den beiden genannten eine an der University von Pennsylvania, die Baclofen bei Kokain-Abhängigen testet, und drei, die es mit Blick auf Nikotin prüfen.

Deutsche Suchtexperten halten Baclofen für vielversprechend, sagen aber, vor dem Einsatz brauchen wir eine Studie dazu
Ich will die Studie ja auch, aber wenn ein Alkoholkranker mit tödlicher Leberzirrhose zum Arzt geht und nach Baclofen verlangt, weil keine andere Behandlung ihm geholfen hat – ist es dann richtig zu sagen: Ich lehne das ab, so lange es keine Studie gibt? Der Patient könnte den Arzt verklagen. Es gibt keinen medizinischen Grund, einem verzweifelten Patienten eine Arznei zu verweigern, die harmlos ist, und von der Neurologen 300 Milligramm täglich verschreiben. Außerdem: Jedermann benutzt Aspirin gegen Kopfschmerz. Meines Wissens gab es nie eine klinische Studie dazu. Trotzdem benutzt man es. Zum medizinischen Handwerk gehört es schließlich auch, gesunden Menschenverstand einzusetzen.

Aber Sie wissen natürlich: Wenn ein Arzt Baclofen verschreibt, ohne dass es zugelassen ist, und dem Patienten passiert etwas, kann er auch verklagt werden.
Baclofen ist ja zugelassen – als Standard-Arznei gegen Muskelkrämpfe. Wenn ein Arzt überzeugt ist, dass ein zugelassenes Medikament auch gegen ein anderes Krankheitsbild hilft, kann er es jederzeit verschreiben. In den USA werden 25 Prozent der Arzneien auf diese Art – off-label – verschrieben, in der Psychiatrie sogar 60 Prozent. Das ist Routine. Als Arzt sollte man verschreiben, was im besten Sinne des Patienten ist.

Aber wer kann sagen, ob Baclofen wirklich sicher ist?
Baclofen gilt als sehr sicher. Schließlich ist es seit vier Jahrzehnten auf dem Markt. Es ist sicherer als Aspirin. Es gibt Patienten, die erfolglos versuchten, sich mit Baclofen umzubringen, mit 2,5 Gramm – ein Vielfaches der Dosis von bis zu 400 Milligramm täglich, die man als Abhängiger nimmt. Wenn man das gleiche mit Paracetamol oder Aspirin versuchen würde, wäre man tot.

Das Ergebnis der Studien könnte ja auch sein, was manche Suchtexperten hier vermuten, dass Baclofen nicht allen Alkoholabhängigen hilft, sondern nur einer bestimmten Gruppe – jenen mit Angststörungen. Wäre das akzeptabel für Sie?
Es wäre zumindest ein Anfang. Ich habe während meiner jahrelangen Therapien viele Alkoholiker kennen gelernt, die aus ähnlichen Gründen zur Flasche griffen. Ihnen zu helfen wäre ein großer Gewinn.

Ist Baclofen eine Wunderdroge?
Nein, ich glaube nicht an Wunderdrogen. Wissenschaft hat mit Wundern nichts zu tun. Aber wie beurteilt man ein Medikament? Danach, wie sich sein Einsatz über einen Zeitraum von zehn Jahren auf die Sterblichkeit auswirkt. Beispiel Aids: Vor zehn Jahren noch war die Todesrate bei 100 Prozent, heute stirbt dank neuer Medikamente niemand mehr an Aids. Medikamente wie Naltrexon und Acamprosat, die den Patienten gegen die Gier nach Alkohol, das sogenannte Craving, helfen sollen, haben an der Sterblichkeit in den vergangenen 20 Jahren nichts geändert. Anders Baclofen: Es gibt dutzende Beispiele von Alkoholkranken, die innerhalb weniger Wochen melden konnten: „Es ist vorbei!“ Einfach so. Baclofen funktioniert nur dann nicht, wenn man es nicht benutzt.

Ob Baclofen an der Sterblichkeit etwas ändern wird, müssen wir erstmal abwarten. Manche sagen, Alkoholsucht zu bekämpfen ist eine Frage der Willenskraft.
Ja, es gibt Menschen, die schaffen es, aufzuhören, dank ihres Willens. Wunderbar, wenn sie es können. Ich kenne aber auch Leute, die 15 Jahre abstinent waren und 15 Jahre lang verzweifelt gegen das Craving ankämpften. Jetzt nehmen sie Baclofen, und ihr Leben ist endlich lebenswert. Das ist es, was es tut: Es befreit Sie von einem unerträglichen Druck. Der Grund, Drogen zu nehmen, fällt weg.

Interview: Frauke Haß

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